Montag, August 12, 2013

Wundertüte

"Dieses Manuskript wäre abgelehnt worden", sagte der Sky-Kommentator Michael Born irgendwann gegen Ende der Übertragung des 6:1-Siegs von Hertha gegen Eintracht Frankfurt am Samstag. Das ist so eine Redewendung, mit der das Überraschende verarbeitet wird. Born übersah aber in der Hitze des Gefechts, dass dieses "Manuskript" eigentlich keine dramaturgischen Schwächen hatte, also nicht mit unplausiblen Wendungen, grotesken Fehlentscheidungen, Göttern aus der Maschine arbeitete. Es hatte eine innere Plausibilität, die aus einem im Grunde einfachen, aber leider so schwer zu erzeugenden Faktor stammt: professionelle Arbeit, die unter idealen Bedingungen zu wunderbarem Spiel wird.

Gestern habe ich mir das Spiel noch einmal in aller Ruhe angesehen, und die Eindrücke aus dem Live-Zusammehang haben sich im wesentlichen bestätigt, im Detail ein wenig verdeutlicht. Dass Frankfurt in den ersten zehn Minuten doch deutlich das Heft in der Hand hatte, war mir ein wenig entgangen, weil ich da schon von den hohen Verteidigungslinien von Hertha fasziniert war (das damit einher gehende Risiko wird sicher Thema dieser Trainingswoche sein, die Eintracht kam doch mehrfach hinter die letzte Hertha-Linie, ein paar Mal zu oft, genau genommen). Das Match war noch keine 60 Sekunden alt, da hatten sich fünf Hertha-Spieler schon auf dem linken Flügel massiert und attackierten die Gegner. In der fünften Minute ging Ben-Hatira an der Eckfahne dort vorn in einen Zweikampf - ein "signature tackling", ein Tackling, das ein Zeichen setzte.

Über die ganzen 90 Minuten überzeugte die Mannschaft durch ein äußerst flexibles Zusammenspiel sowohl im Pressing wie beim Kontern. Allagui ließ sich bei Ballbesitz Frankfurt auf eine zweite Linie zurückfallen, die er mit Lustenberger und Hosogai (und manchmal mit dem vorgeschobenen van den Bergh) bildete. Baumjohann ging vorne in die Mitte, Ramos rückte nach rechts (es gab Varianten, aber das war eine Grundkonstellation). Allagui kam dadurch wie schon gegen Neumünster in einer Situation an den Ball, in der er der ideale Umschaltspieler wurde (nachdem Lustenberger einen Ballgewinn schnell und konstruktiv in seinen Lauf gespielt hatte) - er behauptete im Zweikampf den Ball, sah den Raum für Ben-Hatira, der dieses Mal nicht, wie noch im Cupspiel, selbst abschloss, sondern für Ramos auflegte. 1:0.

Die Bewegung ging von Lustenberger aus, der ein wenig im Schatten des enorm fleißigen und produktiven Hosogai stand; wichtig scheint mir, dass beide äußerst intensiv an der Verbindung der Mannschaftsteile arbeiteten, und die Integration insgesamt stimmte. Als Hertha vor zwei Jahren in die erste Liga zurückkehrte, war die Spielanlage viel, viel konservativer, mit einem defensiven Sechserblock, aus dem allenfalls Ottl ab und zu mit einem Pass nach vorn herausging. Die Mannschaft war unter Babbel weitgehend strukturell halbiert, vorne mussten Raffael, Ramos, Lasogga und manchmal Ebert das Spiel allein bestreiten.

Das ist der entscheidende Unterschied zu Luhukays Hertha, die zumindest am Samstag schon einmal andeutete, dass sie ein integriertes System hat. So etwas lässt sich auch daran erkennen, dass Torerfolge manchmal so etwas wie Generalproben haben, also ähnliche Spielzüge: Allaguis Treffer zum wichtigen 3:1 nach der Pause ging auf eine kurze Bogenflanke zurück, die Baumjohann davor schon zweimal fast identisch geschlagen hatte: vor dem 2:0 und vor dem Lattentreffer von Allagui kurz vor der Pause.

Nichts spricht dagegen, diese Spielanlage mit dem hohen Verteidigen nicht noch gegen eine Reihe weiterer Gegner zu versuchen, jedenfalls in den Heimspielen. Gegen Bayern oder Dortmund wird die Taktik eine andere sein müssen, aber schon gegen Nürnberg ist sie auch auswärts denkbar.

Dass schließlich sogar ein Sebastian Langkamp vor dem 4:1 mit einem "brasilianischen" Moment zu den großartigen Manuskript vom Samstag beitrug, hatte da bereits eine innere Logik. Und so ist es ja mit dem Erzählen: wenn es gelingt, eine Situation plausibel zu etablieren, dann lassen sich auch phantastische Wendungen einbauen. Der Sieg gegen die Eintracht in einem Spiel, das vorab von vielen als "Wundertüte" etikettiert worden war, ist eben doch ein wenig mehr als nur eine Momentaufnahme.

Ich sehe darin so etwas wie eine Geisteraustreibung (zu der auch das Wetter sein dramaturgisches Moment beitrug): All das Ungemach der letzten Jahre, das viele Pech und manche zum Teil absurde Entscheidung auf der Führungsebene, sind jetzt gebannt. Das einzige, was man gegen Pleiten, Pech und Pannen, die jederzeit zurückkommen können, tun kann, hat Hertha am Samstag getan: gut gearbeitet, vernünftig riskiert, dem Glück eine Chance gegeben.

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