Hertha hat eine Vorliebe für torreiche Spiele in meiner Abwesenheit. Im Frühjahr saß ich in New York vor dem "Spiegel"-Ticker, als Dortmund mit 6:2 geschlagen wurde. Vor einer Woche saß ich im Keller eines Einfamilienhauses in einem Vorort von Toronto, als Mönchengladbach zerlegt wurde, das Team von Christian, dem ich meine Dauerkarte geliehen hatte. Der "Spiegel"-Ticker ist die abstrakteste Weise, an einer Bundesligarunde teilzunehmen: Auf dem Bildschirm erscheint ja nicht mehr als die Aufstellung der beiden Mannschaften, die Auswechslungen und die Tore, sowie eine ständig aktualisierte Tabelle, die aber nie ganz auf dem neuesten Stand ist - es ist eine bilderlose Konferenzschaltung, bloße Statistik, und gerade deswegen unglaublich spannend, weil ich auf diese Weise das Spiel schon live als das verfolge, was es am Ende sein wird - Zahlenwerk. Die Erinnerung an die Bilder kann ich ja nachholen, wie ich es gerade auch getan habe, als ich die Premiere-Wiederholung des Hannover-Spiels laufen ließ. Die Erwartung eines Tors, von dem ich weiß, daß es fallen wird, zeigt das Spiel in seiner ganzen grandiosen Kontingenz: Arne Friedrich hat zwischen der 52. und 54. Minute mehrere Male versucht, über rechts etwas zustande zu bringen, sich dabei immer wieder festgelaufen, einen Paß geschlagen, den Ball wieder zurück bekommen, einen Rückpaß gespielt, bis er plötzlich zu dem Doppelpaß mit Bastürk in der Lage war, der ihm die Gasse geöffnet hat an die Ecke des Sechzehners - der kleine Heber auf Rafael erschien dann niemand anderem zwingend als den beiden Beteiligten. Friedrich hatte eine Idee, die Nando Rafael auf eine originelle Weise ausformulierte. Intersubjektivität.
Nach einer Woche in Kanada weiß ich wieder ein wenig mehr über die globale Wahrnehmung des Fußballs: Eine Kabelgesellschaft besitzt dort die Rechte für die Spiele der Premier League und aus Spanien. Man kann wichtige Spiele im Pay-per-View bestellen, für alle anderen Zuschauer ist die Live-Übertragung durch Spots unterbrochen (für Dodge Dakota und Wal-Mart zum Beispiel), was einen seltsamen Verzögerungseffekt ergibt, denn meistens setzt das Spiel dort wieder ein, wo es aufgehört hatte. Die Übertragung gerät also in Verzug, die Halbzeitpause fällt praktisch aus, und das Spiel verläuft irgendwo da draußen in Echtzeit, für mich aber nach den Gesetzen der ökonomisierten Zeit. Aus Spanien werden die Spiele von Gol TV übernommen, einem aufdringlichen Sender, der die Zeitlupen immer mit einem Insert ankündigt, das zwar nur einen Sekundenbruchteil dauert, aber zerrüttend wirkt. Außerdem verkauft Gol TV eine Bildecke für längere Einblendungen an ein Kreditkartenunternehmen, und macht während des Spiels ständig durch Einblendungen auf sich selbst als Sender aufmerksam. Die Übertragungen aus der Premier League sind hingegen der Idealfall eines Fußballspiels im Fernsehen: sie sind hochkonzentriert und so unsichtbar, wie dies bei einer derartig schnellen Montage möglich ist.
Ein Zustand wie in Deutschland, wo im Bezahlfernsehen jedes Spiel der Bundesliga übertragen wird, ist international gesehen so paradiesisch, daß die Logik der Märkte dies nicht mehr lange zulassen wird: Schon jetzt wird daran gearbeitet, die Senderechte auf Pakete aufzuteilen, die dann möglicherweise bei verschiedenen Anbietern landen werden - die KDG (Kabel Deutschland Gesellschaft) formiert sich gerade zu einem Monopolbetrieb von Clements Gnaden, um Premiere ein Monopol streitig zu machen, das im Prinzip publikumsfreundlich ist, wenn es im Detail auch schon durch Werbung und ärgerlichen Firlefanz gestört wird. Ich mag Premiere überhaupt nicht, und der Chef Kofler ist einer der blödesten Investorensklaven, die in Deutschland den Neoliberalismus predigen: Aber die Bundesliga und die Champion's League sind dort noch halbwegs intakt. Kanada aber ist ein Land, das nur neben den USA als fortschrittlich erscheinen kann - die "consumer culture" ist dort genau so brutal, wie beim großen Nachbarn. Man muß für alles bezahlen, und bekommt dann erst recht nur ein Produkt, das mit seiner Reklame nahezu identisch ist.
Hertha in der Weihnachtspause 2004 steht zwischen den Welten: Es wird noch eine Weile dauern, bis jemand in Kanada ein Spiel wegen Nando Rafael einschaltet. Warum hat er eigentlich so böse geschaut nach seinem Tor gegen Hannover? Allem Anschein nach glaubt er doch an die wichtigste Einschaltquote: an den Mann im Himmel, der alles sieht! Advent, Advent, ein Lichtlein brennt.