Stefan, ein Freund, war unlängst in Mexiko und hat dort auch Fußball im Fernsehen geschaut. Weil mich immer interessiert, wie das Spiel in anderen Ländern inszeniert wird, habe ich ihn um einen kleinen Bericht gebeten, den er prompt geliefert hat:
"Zum Standardrepertoire gehören Helikopter-Einstellungen, die das gesamte Spielfeld zeigen (und als solche Einstellungen auch stolz gekennzeichnet werden, mit dem Zusatz: ‚en vivo’).
- Wiederholungen und Zeitlupen zu besonderen Situationen – Tor, Abseitsentscheidung, erkanntes oder nicht geahndetes Foulspiel etc. – werden extrem zeitnah zur Verfügung gestellt. Die Variabilität der unterschiedlichen Kamerapositionen ist verblüffend; regelmäßig kommen Detailausschnitte zum Einsatz, die nur die Beine der Spieler, aber nicht mehr ihre Köpfe zeigen. Solches Bildmaterial bekommen deutsche Fernsehzuschauer bestenfalls nachgeliefert. In der Bundesliga-Berichterstattung gab es schon lange vor dem Einzug der Privatsender die Arbeitsteilung zwischen der Sportschau am frühen und dem Sportstudio am späten Abend: um sechs die Fakten, um zehn die Analyse – wie konnte das geschehen? Die Mikroform dessen, was Costard in seinem George Best-Film ,Fußball wie noch nie' gemacht hat, solche Detailausschnitte von unter besonderer Beobachtung stehenden Spielern, die gab und gibt es im deutschen Fernsehen erst in der Nachlese der Nachlese. Soviel Zeit braucht man hierzulande, um über Fußball nachzudenken. In den mexikanischen Live-Übertragungen erhält man ein Bild davon, um wie vieles rascher dieses Denken sein kann: Die, die hier die Übertragungstechnik konzipieren und bedienen, verstehen soviel von der Sache, dass sie das Spiel in jedem beliebigen Moment anhalten und erklären können. Indem sie mit ihren Instrumenten das Spiel mitspielen, produzieren sie synchron seine Analyse. Hier wird nicht nachgedacht, hier wird mitgedacht.
- Kleine, flinke Werbe-Animationen ziehen sich durch die gesamte Spielzeit. Die Bildregie ist sehr sensibel für Spielunterbrechungen, die sie rasch nutzt, manchmal regelgerecht antizipiert. Oft schneidet sie in solchen Augenblicken auf Einstellungen von den Zuschauern. Die fungieren dann als bewegter Hintergrund für die etwas zahlungskräftigeren Werbekunden. Wer weniger Geld ausgeben will, der muss sich mit einem kurzen Trick am unteren Bildrand begnügen. Die Werbung darf generell immer nur Teil des Bildes bleiben, also niemals das ganze Bild für sich beanspruchen. Eine Entdeckung war die Werbung mit dem Freistoß-Kreis: die Graphik, die den regelkonformen Abstand zwischen Ball und Verteidigermauer beschreibt, indem sie einen Kreis in das Live-Bild malt, die wurde hier gelegentlich dazu genutzt, innerhalb der runden Fläche ein Firmenlogo herumwirbeln zu lassen: der stumme Auftritt einer Marke im virtuellen Scheinwerfer-Kegel unserer gelenkten Aufmerksamkeit. Ich fand das eher überraschend als aufdringlich. Gemessen am technischen Aufwand und daran, was üblicherweise für ein Rummel veranstaltet wird um Reklamemaßnahmen, kam es mir so vor, als müsse man hier von einer erstaunlich großen Dezenz des Einsatzes von Werbung sprechen, in allen ihren Erscheinungsformen.
- Es ist auch sonst viel Graphik los: Eingriffe wie im American Football, wo handgemalt die Zone eingekreist wird, in der das jeweils angesprochene Mikro-Ereignis erneut stattfindet: replay, mit geführtem Blick. Auch die Detailvergrößerung innerhalb des üblichen Bildausschnitts, eigentlich eine klassische Lupe, soz. eine Raum-Lupe, findet häufig Anwendung – und hat in meiner kurzen Zuschauerpraxis in Mexiko immer einen Gewinn an Erkenntnis oder Gewissheit geliefert. Sinnvoller Medieneinsatz.
- Verspielter geht es bei einem Gimmick zu, den ich noch nirgendwo anders gesehen habe: in der Wiederholung werden Ball und Ball führender Spiele von zwei verschiedenfarbigen Strichellinien verfolgt. Weil ich in letzter Zeit häufiger über Möglichkeiten der graphischen Darstellung von Ballsportarten nachgedacht habe, war ich vielleicht etwas stärker sensibilisiert als meine Freunde. Für die war das nicht mehr als eine nicht unsympathische Protzerei mit dem letzten, teuren Spielzeug, Elektro-Dekoration, künstlich hinzugefügtes Pseudo-Ereignis. Ich vermute mehr: das hat mit Mustererkennungsprogrammen zu tun, das erprobt man hier schon mal, und wenn es noch keinen großen analytischen Mehrwert abwirft, dann sammelt man eben schon einmal Praxiserfahrung. Der systematische Einsatz solcher Programme im Bereich der Sportübertragungen kann nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Bei vielen Profi-Vereinen gehören sie mittlerweile - in vereinfachter, dh. in didaktischer Form - zur taktischen Grundausstattung. Was die Mexikaner hier möglicherweise erproben? Den schnellen Einsatz. Wieder geht es um Zeitnähe. Der Schritt, der jetzt folgen muss – und der in den erwähnten Taktikprogrammen schon vollzogen ist, nur dass eine ‚digitale’ Spielanalyse noch sehr viel Bearbeitungs- und Erstellungszeit braucht -: Spielzüge werden bereits kurz, nachdem sie sich ereignet haben, so umgerechnet, dass sie abstrakt auf einer das gesamte Spielfeld symbolisierenden Fläche nachgezeichnet werden – eine zeitnahe und dynamische Taktiktafel.
Ich nenne das die Alphabetisierung der Fernsehzuschauer: jeder kann lernen, das Spiel zu lesen und Wunsch von Wirklichkeit zu unterscheiden (und dann eben intelligenter zu wünschen). Das wird eine Umstellung für den gemeinen deutschen Fußball-Kommentator, der seit Beginn der privaten Sendebetriebe so brav das Emotionalisieren gepaukt hat und an spielentscheidenden Faktoren zwangsläufig vorbeiguckt. In meiner Vorstellung einer besseren Welt wird diese Form der Szenenwiederholung mit pädagogischen Charakter auf jeden Fall zu einem Standardinstrument der Live-Berichterstattung. Und der Stammtisch wird vom Geschwafel befreit - es wird dann einfach keinen Spektakelwert mehr geben ohne analytischen Mehrwert."