Dass Hertha BSC vor hundert Jahren einmal gegen Warta Posen
2:9 verloren hat, hätte ich wohl nie erfahren, wenn nicht die
Fußball-Europameisterschaft 2012 an Polen und die Ukraine vergeben worden wäre.
Da es sich dabei um zwei Transformationsländer in Osteuropa handelt, gibt es
zum sportlichen Ereignis auch das eine oder andere Stück aufbereitender
Literatur.
Der Sammelband Totalny Futbol überzeugt dabei durch einen ebenso
einfachen wie plausiblen Ansatz: Zu jedem Austragungsort gibt es hier eine
Geschichte, verfasst von Schriftstellern, die dazu eine Verbindung haben. Im
Falle der westpolnischen Stadt Poznan ist das Natasza Goerke, die auf eine
möglicherweise hinterhältige Weise Günter Grass zitiert: „Günter Grass, der
berühmte Halbpole, hat seine Meinung über uns Vollpolen in hinterhältigen
Wendungen voller Subtilitäten und Zweideutigkeiten zum Ausdruck gebracht: Ich
sag es immer, Polen sind begabt. / Sind zu begabt, wozu begabt, / begabt mit
Händen, küssen mit dem Mund, / begabt auch darin: Schwermut, Kavallerie.“
Hinterhältig ist hier sicher die Verwendung des Begriffes Kavallerie, die
bekanntlich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schlecht aussah, als die deutschen
Panzer kamen.
Die alten Kriegsmetaphern haben im Fußball aber längst
ausgedient, an ihre Stelle sind auch in diesem Band differenzierte und
selbstironische nationale Phänomenologien getreten, für die sich die
Anhänglichkeit an bestimmte Teams dann doch wieder als guter Schlüssel
herausstellt. Natalka Snjadanko berichtet in ihrem Text über Lemberg/Lwiw von
einem ganz frühen Fußballspiel aus dem Jahr 1894, das durch einen
Zeitungsartikel sehr gut dokumentiert ist, und in dem ein Team aus Lemberg
gegen eines aus Krakau antrat, an dessen Ende aber nicht ganz eindeutig zu
sagen war, „wer wen besiegt hat – denn es war ja ein Pole aus der Lemberger
Mannschaft, der den Ball ins Krakauer Tor schoss“.
Es sind komplexe, „multikulturelle“ Landschaften, in denen
die EM 2012 stattfindet, das geht auch aus dem schönen Text von Piotr Siemion
über Breslau/Wroclaw hervor. Der Club, um den es darin geht, heißt Wojskowy
Klub Sportowy Slask (Militärsportverein Slask), das kommt dem ersten Team sehr
nahe, dem ich als Kind anhing: dem Linzer Athletiker Sportklub LASK, der
legendäre Derbys mit dem anderen Team aus der Stahlstadt austrug, mit VÖEST
Linz. Man kann ein Buch wie Totalny Futbol auch gut vor dem Hintergrund der
eigenen Fanbiographie lesen, die ja jahrzehntelang vor allem aus seltsamen
Namen bestand. Namen, die in Tabellen und Aufstellungslisten eingetragen waren.
Einer der berühmtesten dieser Namen ist Oleg Blochin. Der
ukrainische Superstar spielte ausgerechnet in der Saison vor dem Ende des
Kommunismus in meiner Heimat bei Vorwärts Steyr. Jury Andruchowytsch, der zu
Totalny Futbol den Beitrag über (Dynamo) Kiew beigesteuert hat, geht über diese
nicht unbedeutende Episode schweigend hinweg. Sein Interesse gilt auch eher dem
großen Trainer Valeri Lobanowskyj, von dem die Suggestion ausging, er könnte
den Fußball berechenbar machen. Denkste. „Meine Verzweiflung hat eine
philosophische Dimension. Es ist nicht nur der Bankrott eines bestimmten
Fußballprojekts“, schreibt Andruchowytsch über den Niedergang von Dynamo Kiew.
„Es ist das Scheitern des Rationalismus. Das Chaos übernimmt den Kosmos und
ruft uns zum Abschied höhnisch zu: Der Ball ist rund, der Platz ist groß.“ Und
dieses Buch bleibt auch nach dem Turnier noch lesenwert, auf das es uns
einstimmen sollte.
Totalny Futbol. Eine polnisch-ukrainische Fußballreise, hg.
von Serhij Zhadan, edition suhrkamp 2012
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