Donnerstag, Juni 14, 2012

Totalny Futbol


Dass Hertha BSC vor hundert Jahren einmal gegen Warta Posen 2:9 verloren hat, hätte ich wohl nie erfahren, wenn nicht die Fußball-Europameisterschaft 2012 an Polen und die Ukraine vergeben worden wäre. Da es sich dabei um zwei Transformationsländer in Osteuropa handelt, gibt es zum sportlichen Ereignis auch das eine oder andere Stück aufbereitender Literatur.

Der Sammelband Totalny Futbol überzeugt dabei durch einen ebenso einfachen wie plausiblen Ansatz: Zu jedem Austragungsort gibt es hier eine Geschichte, verfasst von Schriftstellern, die dazu eine Verbindung haben. Im Falle der westpolnischen Stadt Poznan ist das Natasza Goerke, die auf eine möglicherweise hinterhältige Weise Günter Grass zitiert: „Günter Grass, der berühmte Halbpole, hat seine Meinung über uns Vollpolen in hinterhältigen Wendungen voller Subtilitäten und Zweideutigkeiten zum Ausdruck gebracht: Ich sag es immer, Polen sind begabt. / Sind zu begabt, wozu begabt, / begabt mit Händen, küssen mit dem Mund, / begabt auch darin: Schwermut, Kavallerie.“ Hinterhältig ist hier sicher die Verwendung des Begriffes Kavallerie, die bekanntlich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schlecht aussah, als die deutschen Panzer kamen.

Die alten Kriegsmetaphern haben im Fußball aber längst ausgedient, an ihre Stelle sind auch in diesem Band differenzierte und selbstironische nationale Phänomenologien getreten, für die sich die Anhänglichkeit an bestimmte Teams dann doch wieder als guter Schlüssel herausstellt. Natalka Snjadanko berichtet in ihrem Text über Lemberg/Lwiw von einem ganz frühen Fußballspiel aus dem Jahr 1894, das durch einen Zeitungsartikel sehr gut dokumentiert ist, und in dem ein Team aus Lemberg gegen eines aus Krakau antrat, an dessen Ende aber nicht ganz eindeutig zu sagen war, „wer wen besiegt hat – denn es war ja ein Pole aus der Lemberger Mannschaft, der den Ball ins Krakauer Tor schoss“.

Es sind komplexe, „multikulturelle“ Landschaften, in denen die EM 2012 stattfindet, das geht auch aus dem schönen Text von Piotr Siemion über Breslau/Wroclaw hervor. Der Club, um den es darin geht, heißt Wojskowy Klub Sportowy Slask (Militärsportverein Slask), das kommt dem ersten Team sehr nahe, dem ich als Kind anhing: dem Linzer Athletiker Sportklub LASK, der legendäre Derbys mit dem anderen Team aus der Stahlstadt austrug, mit VÖEST Linz. Man kann ein Buch wie Totalny Futbol auch gut vor dem Hintergrund der eigenen Fanbiographie lesen, die ja jahrzehntelang vor allem aus seltsamen Namen bestand. Namen, die in Tabellen und Aufstellungslisten eingetragen waren.

Einer der berühmtesten dieser Namen ist Oleg Blochin. Der ukrainische Superstar spielte ausgerechnet in der Saison vor dem Ende des Kommunismus in meiner Heimat bei Vorwärts Steyr. Jury Andruchowytsch, der zu Totalny Futbol den Beitrag über (Dynamo) Kiew beigesteuert hat, geht über diese nicht unbedeutende Episode schweigend hinweg. Sein Interesse gilt auch eher dem großen Trainer Valeri Lobanowskyj, von dem die Suggestion ausging, er könnte den Fußball berechenbar machen. Denkste. „Meine Verzweiflung hat eine philosophische Dimension. Es ist nicht nur der Bankrott eines bestimmten Fußballprojekts“, schreibt Andruchowytsch über den Niedergang von Dynamo Kiew. „Es ist das Scheitern des Rationalismus. Das Chaos übernimmt den Kosmos und ruft uns zum Abschied höhnisch zu: Der Ball ist rund, der Platz ist groß.“ Und dieses Buch bleibt auch nach dem Turnier noch lesenwert, auf das es uns einstimmen sollte.

Totalny Futbol. Eine polnisch-ukrainische Fußballreise, hg. von Serhij Zhadan, edition suhrkamp 2012

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