Sonntag, Juni 10, 2012
Sindbad der Busfahrer
Um 6:08 bin ich heute morgen nach Rzeszów zurückgekommen, von einem knapp sechzehnstündigen Ausflug in die Ukraine, und nun habe ich sogar noch eine kleine Mütze richtigen Schlaf bekommen, bevor es bald mit dem Bus zurück nach Berlin geht. Es kam alles ganz anders, als ich erwartet hatte, und das hat damit zu tun, dass weder Michel Platini noch ich sich so richtig gut überlegt hatten, was es bedeutet, ein großes Turnier abzuhalten, durch das hindurch die EU-Außengrenze verläuft.
Als ich am Samstagmittag vor dem Hauptbahnhof von Rzeszów auf einen jungen Mann aus Lublin traf, der als Freelancer für die Firma arbeitet, bei der ich einen Leihwagen reserviert hatte, konfrontierte er mich mit der Tatsache, dass bei Grenzübertritt in ein Land der ehemaligen Sowjetunion eine Gebühr von 500 Zloty zusätzlich fällig würde, und dass das Auto in der Ukraine nicht diebstahlsversichert wäre. Das erschien mir eine wenig einladende Kombination, die ich zum Anlass nahm, die Reservierung zu stornieren, und es auf andere Weise zu versuchen, nach Lwiw zu kommen.
Dabei machte ich gleich eine interessante Erfahrung mit zwei Deutschen, die auch bei derselben Firma reserviert hatten. Meine harmlose Frage, ob sie eventuell noch jemand mitnehmen könnten, beantworteten sie abschlägig - kein Problem. Was mich aber verwunderte, war, dass sie mich die ganze Viertelstunde, die wir dann noch dort herumstehen mussten, während einer von ihnen alle Papiere unterzeichnete, keines Blickes mehr würdigten und nicht einmal das allereinfachste gemeinsame Faninteresse mehr zeigten, das man in solchen Situationen auf Reisen doch kennt - man tauscht sich ein wenig aus. Es war, als hätte ich mich durch meine Frage für obdachlos und vogelfrei erklärt, und versucht, einen bestens geplanten Trip aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Ich verfiel dann auf die einzige noch machbare Variante: Von Rzeszów nahm ich einen Zug nach Przemysl, wo ich um 16:20 ankam (17:20 ukrainische Zeit, also viereinhalb Stunden vor Anpfiff). Außer mir waren nur noch zwei junge deutsche Fans da, Ali und Kenny (Oliver und Kenneth aus Bremen), von denen Ali zum Glück ein Lahm-Trikot trug. Er kann auch Polnisch, und führte dann die Verhandlungen mit einem ukranischen Chauffeur, der anbot, uns für 250 Zloty (bisschen über 50 Euro) nach Lwiw (Lwow für die Polen) zu bringen. Wir prüften kurz, was dafür und dagegen sprach (die typische Argumentationskette, die da im Kopf abläuft, Indizien ad hominem – sieht er aus wie ein Verbrecher? – und ad rem – er hat eine Taxilizenz, wir können ja sein Kennzeichen nach Hause funken), und entschieden uns für die Fahrt.
Es war eine weise Entscheidung. Diese zwei Stunden auf der prächtig ausgebauten, von Gewitterwolken verhangenen Straße von Przemysl nach Lemberg werden mir in Erinnerung bleiben, es war einfach großartig. Zwei Stunden vor Anpfiff waren wir in Lemberg am Bahnhof. Ich spazierte dann noch eine Stunde durch die Stadt, die allem ersten Anschein nach super interessant ist, sah am Rande des Public Viewing, dass die Niederlande nicht als ein Team spielen, und kam schließlich ein paar Minuten zu spät in die Arena von Lwiw.
Zum Spiel habe ich eine Menge Material, das ich hier reinstellen werde, wenn ich wieder in Berlin bin. Das Stadion ist eines der besten, das ich bisher besucht habe, es liegt wie ein UFO (wir kennen die Metapher) an der äußersten Peripherie.
Um 2:02 ging ein Zug zurück nach Przemsyl, und wenn es noch eines Grundes bedurft hätte, diese kleine Reise zu rechtfertigen, dann könnte ich ihn in den Bahnhofsgebäuden dieser altösterreichischen Städte allein schon finden. Nicht auszudenken, was die Abteilung Stations and Services der DB dort anrichten würde, an Orten, an denen man die ganze Größe dessen sehen kann, was einmal öffentliches Gemeingut war, bürgerliche Infrastruktur, Verkehrswesen in jedem Sinn.
Die Grenzkontrollen verliefen ohne große Probleme, wir sahen zwar mehrere Hundertschaften Uniformierter und ein paar putzige Hunde, wurden aber mit zwei Stempeln entlohnt, und so konnte ich um 4:28 in Przemysl einen Regionalzug besteigen, der mich auf die harte Tour (nie hat ein Zug so gerumpelt wie dieser) nach Rzeszów zurückbrachte, wo ich jetzt, frisch geduscht und beinahe ausgeschlafen, auf den Sindbad-Bus nach Berlin warte.
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